Project
Als Tarantismus wird ein italienischer Besessenheitskult bezeichnet bei dem die Betroffenen – zumeist Frauen – von körperlichen Anfällen gepackt werden. In der lokalen Vorstellung wird dieser Zustand durch den Biss einer Spinne verursacht, deren Gift nur durch den ekstatischen Tanz der Tarantella aus dem Körper getrieben werden kann.
Das medienethnologische Film- und Forschungsprojekt ›Tarantism Revisited‹ spürt den vielfältigen Facetten eines Phänomens nach, das seit mindestens 500 Jahren als endemisch für Süditalien betrachtet werden kann und gegenwärtig eine erhebliche Revitalisierung und Popularisierung erfährt. In den letzten Jahrzehnten haben sich sowohl der Tarantismus als auch die damit verbundene Pizzicata-Musik zu einem wesentlichen Bestandteil der lokalen Kultur Apuliens entwickelt, das zur Konstruktion einer neuen, neo-traditionalen lokalen Identität beigetragen hat. Ausgehend von den Schriften des italienischen Religionsethnologen Ernesto de Martinos ebenso wie auf den Filmen, Fotografien und Tondokumenten, die im wissenschaftlichen und künstlerischen Umfeld einer ›Expedition‹ entstanden sind, die den Ethnologen in den 1950er Jahren in den Süden seines Heimatlandes führten, untersucht das Projekt den besonderen Einfluss der ikonischen Bilder auf die Art und Weise, wie der Tarantismus gegenwärtig in der Region und darüberhinaus repräsentiert und wahrgenommen wird. Um die komplexe Geschichte und aktuelle Bedeutung des Tarantismus zwischen touristischem Spektakel und politisierter Folklore, kulturellem Erbe, weiblicher Ermächtigung und religiöser Praktik zu erfassen, setzen wir ein cross-mediales Projekt um, das in Kollaboration mit lokalen Performer*innen, Musiker*innen und Aktivist*innen entsteht und auf drei Ebenen verläuft: der Realisation eines 60-minütigen Dokumentarfilms und ergänzender 360° Videos; beide Formate tragen zu einer interaktiven, multimedialen Website mit historischen und zeitgenössischen Fotografien, erläuternden Texte, kurzen Videos, Klangexperimenten, Interviewausschnitten und Beispielen von Tarantella bei.
Der Fokus des Projekts liegt auf den performativen Aspekten des Tarantismus als politisiertem multimedialem Ereignis, sowie als kulturelle und ökonomische Ressource. Darüberhinaus möchten wir die Aufmerksamkeit auf die kulturellen Dynamiken populärer religiöser Praktiken lenken, die gegenwärtig vielerorts neu entdeckt, wiederbelebt und mit neuen Bedeutungen versehen werden und auf diese Weise Traditionen und kulturelle Identitäten gestalten und mobilisieren.